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Titel
Die Thyssen-Bornemisza-Gruppe. Eine transnationale business-group in Zeiten des Wirtschaftsnationalismus (1932–1955)


Autor(en)
Gehlen, Boris
Reihe
Familie – Unternehmen – Öffentlichkeit: Thyssen im 20. Jahrhundert (10)
Erschienen
Paderborn 2021: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
444 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dietmar Bleidick

Der Name Thyssen stand in der deutschen Öffentlichkeit des 20. Jahrhunderts gemeinhin als Synonym für das Duisburger Stahlunternehmen – die Aufteilung des Unternehmens nach dem Tod von Gründer August Thyssen im Frühjahr 1926 unter seinen Söhnen Fritz und Heinrich geriet recht schnell aus dem Blick. Heinrich Thyssen-Bornemisza agierte weitgehend außerhalb der deutschen Öffentlichkeit von der Schweiz und den Niederlanden aus und entwickelte seine business group zu einem verflochtenen Konglomerat von schließlich 75 Firmen mit teils synergetischen Aktivitäten, teils aber auch mit relativ eigenständigen Tätigkeitsfeldern. Neben dem Energie- und Wassersektor gehörten dazu die Stahlerzeugung und -verarbeitung, der Maschinen- und Schiffbau sowie die eng mit dem Handelsgeschäft verbundenen Schifffahrtsgesellschaften, aber auch die Baustoffproduktion, Banken, Beratungsgesellschaften, Stiftungen und eine Pferdezucht.

Im Gegensatz zu anderen Montanunternehmen des Ruhrgebiets1 fehlt bis heute eine wissenschaftliche Gesamtstudie zum Thyssen-Konzern2. Das Forschungsprojekt „Die Unternehmerfamilie Thyssen im 20. Jahrhundert“ bringt vor diesem Hintergrund weiteres Licht ins Dunkle. Zwar liegt der Schwerpunkt der Untersuchungen auf der NS-Zeit, doch reichen einige der mittlerweile zehn vorliegenden Studien weit über diese hinaus. Und auch der eigentliche Fokus auf die Familiengeschichte wird vielfach ergänzt um unternehmens- und wirtschaftshistorische Aspekte. Dies gilt insbesondere für die vorliegende Arbeit von Boris Gehlen zur Thyssen-Bornemisza-Gruppe (TBG), die sich erstmals mit diesem weithin unbekannten Unternehmenskomplex befasst.

Stehen Pionierstudien grundsätzlich vor der Problematik einer unzureichenden Literaturbasis, wurde hier die Aufarbeitung noch durch das Fehlen eines zentralen Aktenbestandes erschwert. Es mussten daher zahlreiche Bestände in 16 Archiven des In- und Auslands herangezogen werden, um das komplizierte Geflecht aus Eigentumsrechten und Binnenbeziehungen innerhalb mehrerer Holdings zu entwirren. Weitere Schwierigkeiten resultierten aus der Inkonsistenz der Überlieferung in den Beständen und der Tatsache, dass der Nachlass von Heinrich Thyssen-Bornemiszas Generalbevollmächtigtem Wilhelm Roelen einerseits die zentrale Quelle für übergeordnete Fragestellungen und die Wirkbeziehungen innerhalb der TBG darstellt, dieser andererseits aber vielfach nicht mehr als Rekonstruktionen der Nachkriegszeit enthält, die das zeittypische Ziel verfolgten, den Zwangscharakter des NS-Regimes hervorzuheben.

Das klassische Exkulpationsnarrativ diente hier vor allem zur Begründung einer gewissen Regimeferne von Roelen und Heinrich Thyssen-Bornemisza, die von den Nationalsozialisten durch umfassende Behinderungen der Geschäftsaktivitäten der TBG bestraft worden sei. Diese Position lässt sich auf Grundlage der Akten weder verifizieren noch eindeutig widerlegen, doch kann Gehlen als ausgewogenes Fazit feststellen, dass Unternehmen der TBG aus diversen Gründen in Konflikt mit dem Regime gerieten und auch bei der Zwangsarbeit hinter den eingeräumten Möglichkeiten zurückblieben, grundsätzlich aber als oberstes Ziel den Schutz des Eigentümervermögens verfolgten und damit auch maßgeblich zum Funktionieren der Kriegs- und Rüstungswirtschaft beitrugen. Zugleich agierte die TBG auch auf anderen Feldern durchaus zurückhaltend und lehnte „Arisierungen“ und Angliederungen ausländischer Unternehmen ab, nutzte also nicht die systemischen Anreize zur Expansion, sondern blieb weitestmöglich bei ihrer vor 1933 kultivierten Geschäftspolitik. Weitgehend offen bleiben leider aufgrund der desolaten Quellensituation konkrete Hinweise auf die Entscheidungsabläufe innerhalb der TBG während der 1930er-Jahre, während für die 1940er-Jahre wenigstens Protokolle der Quartalsbesprechungen zwischen Roelen und Thyssen-Bornemisza vorliegen. Der Eigentümer selbst vermied schriftliche Kommunikation und unterhielt noch nicht einmal ein eigenes Büro.

Die Arbeit gliedert sich in vier Hauptkapitel. Das erste skizziert die Funktionen der Holdings und Unternehmen sowie deren Entstehungs- und Entwicklungskontexte. In den ersten zehn Jahren nach der Aufteilung des Thyssen-Konzerns wurde vor allem das Ziel verfolgt, die zahlreichen wechselseitigen Minderheitsbeteiligungen von Heinrich und seinem Bruder Fritz durch Tausch zu beseitigen und klare Verhältnisse zu schaffen. Alles drehte sich um diese Eigentumskonzentration, die in einem zweiten Schritt erst die Entstehung der business group unter einheitlicher Führung ermöglichte, deren Strukturen gerade nicht den Standards des dominanten Wirtschaftsnationalismus entsprachen, sondern die vielfach unklare staatliche Zuordnung u.a. zur Steueroptimierung nutzten. In diesem Sinne war die TBG einzigartig im Ruhrgebiet und kann zugleich als früher Vertreter eines Unternehmenskonzepts angesehen werden, das sich erst weit nach dem Zweiten Weltkrieg sukzessive durchzusetzen begann.

Nach 1945 sorgten die Verschleierungsstrategie der TBG und ihre „Mehrstaatlichkeit“ für gravierende Probleme, denn ein Großteil der Unternehmen wurde in verschiedenen Ländern unter Feindvermögensverwaltung gestellt, während in Westdeutschland die Alliierten die Kontrolle übernahmen, ohne sich um unternehmensrechtliche Bindungen zu kümmern. Aber welcher Zuständigkeit waren einzelne Unternehmensteile zuzuordnen und welche Nationalität besaß eigentlich der in der Schweiz ansässige deutschstämmige Ungar Heinrich Thyssen-Bornemisza, der über eine Schweizer Stiftung Holdings und eine Bank in den Niederlanden besaß, die wiederum Unternehmen in Deutschland und anderen Staaten kontrollierten? Die Restitution sollte sich folglich als äußerst schwierig und langwierig erweisen. Erheblich einfacher war die Entflechtung in der Bundespublik, da die TBG nicht als Einheit von unzulässiger wirtschaftlicher Macht eingestuft wurde und damit trotz der Auflage, die inneren Verflechtungen zu reduzieren, erheblich flexibler agieren konnte. Mitte der 1950er-Jahre besaß die TBG schließlich eine neue, straffere Struktur, umfasste aber weiterhin die angestammten Unternehmen und Geschäftsbereiche.

Kapitel drei widmet sich den Leitungs-, Lenkungs- und Kommunikationsstrukturen innerhalb der TBG. Unterhalb der starken Position des Eigentümers entwickelte sich eine hybride Organisation, die durch vielfache Kapital-, Produktions- und Personalverflechtungen zwischen den Einzelgesellschaften geprägt war. Damit sperrt sich die TBG auch in dieser Hinsicht gegen klassische Konzepte der Unternehmens- und Wirtschaftsgeschichte, und es ist hervorzuheben, welche Leistung hinter der Rekonstruktion des verworrenen Komplexes und gerade hinter der Einordnung Thyssen-Bornemiszas als Unternehmer steht. Gehlen arbeitet überzeugend heraus, dass die Steuerung der TBG maßgeblich über den internen Mitteltransfer erfolgte, bei dem Banken und Beratungsgesellschaften eine wichtige Rolle einnahmen. Die Dezentralität der business group spiegelte sich in einer weitreichenden Entscheidungsautonomie des Managements, das durch ein Accounting im modernen Sinne kontrolliert und durch ein weitreichendes Tantiemensystem auf Erfolg getrimmt wurde.

Das Unternehmensergebnis der TBG wird im vierten Abschnitt vorgestellt. Eine eigentliche Konzernbilanz wurde erstmals während des Krieges für das Jahr 1941 erstellt, auch danach mangelt es an zusammenfassenden Daten. So blieb für die Ermittlung der Gewinne und Verluste nur der Umweg über die zahlreichen Einzelbilanzen der gruppeneigenen Unternehmen. Auch wenn die angegebenen Werte bei einem Eigentümerkomplex wie der TBG und unter Berücksichtigung der ihr daraus erwachsenden Steuerungsmöglichkeiten durch Finanztransaktionen mit der gebotenen Vorsicht zu interpretieren sind, ergibt sich doch durch die Hinzuziehung der Akten und nach umfangreichen Berechnungen Gehlens ein eindeutiges Bild. Als Komplex war die TBG durchgängig erfolgreich, wie die fundierte Schätzung des Gesamtergebnisses der Dividendeneinnahmen zeigt. Gleichzeitig ließ sich auf diesem Weg auch die spannende Frage beantworten, welches Einkommen Heinrich Thyssen-Bornemisza aus seinen Unternehmungen bezog. Dieses blieb zwischen 1928 und 1938 im niedrigen Millionenbereich relativ stabil, um sich danach massiv zu reduzieren. Thyssen-Bornemisza verfolgte somit ein festes Dividendenkonzept, das die wirtschaftliche Lage in Friedenszeiten weitgehend ausblendete.

Den mit Abstand größten Raum nimmt die Untersuchung der Geschäftsmodelle und Strategien der TBG-Unternehmen im abschließenden Kapitel ein. Hier scheinen die an das jeweilige Geschäfts- bzw. Marktumfeld angepassten spezifischen Einzelwege der unterschiedlichen Sparten besonders eindrucksvoll auf. Insgesamt veränderten sich die grundlegenden Konzepte der meisten Unternehmen nach der Aufteilung des Thyssen-Konzerns 1926 kaum. Dies war auch nicht notwendig, denn die Banken, der Baustoffsektor, der Handel und die Logistik sowie mit Abstrichen auch die Werften unterlagen anderen Rahmenbedingungen als die im Ruhrgebiet zunehmend eng verflochtenen Bereiche der Energieversorgung und Stahlwirtschaft. Dass aber auch hier keine prinzipiellen Neujustierungen angesetzt werden mussten, lag an der Sonderstellung der Thyssen’schen Unternehmen innerhalb ihrer Branchen. Im Ferngassektor gehörte die Thyssengas 1926 schon seit mehr als zwei Jahrzehnten zu den führenden Unternehmen. Als in diesem Jahr von nahezu allen kokereigasproduzierenden Zechengesellschaften die spätere Ruhrgas AG gegründet wurde, lehnte die Thyssengas alle Avancen zur Integration ab und entwickelte sich durch eine geschickte Geschäftspolitik zu einem zunächst bekämpften, schließlich aber tolerierten Konkurrenten.3

Mit seiner Geschichte der TBG ist Boris Gehlen ein großer Wurf gelungen. Der unternehmenshistorische Sonderfall erforderte nicht nur einen erheblichen Forschungsaufwand, sondern auch eine besondere Herangehensweise, um die verworrenen Konstruktionen und die vielschichtigen inneren wie äußeren Beziehungsgeflechte zu rekonstruieren und ohne ausufernde Detailschilderungen verständlich darzustellen. Wer sich auf die Lektüre einlässt, sollte jedoch bereit sein, komplette Kapitel oder bestenfalls das ganze Buch zu lesen, da nur auf diesem Weg ein tieferes Verständnis der Zusammenhänge zu erreichen ist. Einen gewissen Eindruck der Vielschichtigkeit vermitteln schon das Personen- sowie das Firmen- und Institutionenregister mit rund 280 bzw. 370 Einträgen. Den Zugang erleichtern 31 Tabellen und 26 Grafiken, die nicht nur Strukturen offenbaren, sondern auch das Finanzsystem der TBG ausleuchten. In der Gesamtbetrachtung schließt Gehlens Arbeit Lücken in der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte des Ruhrgebiets und der von den TBG-Unternehmen abgedeckten Branchen. Wichtige neue Erkenntnisse bieten darüber hinaus die aus dem Charakter der TBG resultierenden internationalen Beziehungen. Und nicht zuletzt bietet das Buch eine konzeptionelle Grundlage für die Untersuchung des von der Unternehmensgeschichte bislang noch kaum beackerten Feldes der business groups.

Anmerkungen:
1 Lothar Gall (Hrsg.), Krupp im 20. Jahrhundert. Die Geschichte des Unternehmens vom Ersten Weltkrieg bis zur Gründung der Stiftung, Berlin 2002; Horst A. Wessel, Kontinuität im Wandel. 100 Jahre Mannesmann 1890–1990, Düsseldorf 1990; Marco Rudzinski, Ein Unternehmen und „seine“ Stadt Bochumer Verein und Bochum vor dem Ersten Weltkrieg, Essen 2012.
2 Populärwissenschaftlich: Wilhelm Treue, Die Feuer verlöschen nie. August Thyssen-Hütte 1890–1926, Düsseldorf/Wien 1966; Wilhelm Treue/Helmut Uebbing, Die Feuer verlöschen nie. August Thyssen-Hütte 1926–1966, Düsseldorf/Wien 1969; Helmut Uebbing: Wege und Wegmarken. 100 Jahre Thyssen 1891–1991, Berlin 1991.
3 Vgl. Dietmar Bleidick, Die Ruhrgas 1926–2013. Aufstieg und Ende eines Marktführers, Berlin/Boston 2018; Michael Kanther, Thyssengas. Die Geschichte des ersten deutschen Unternehmens der Ferngasversorgung von 1892–2020, Münster 2021.

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